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Dil

Wir mochten die Bee Gees, Boney M. und Abba, die machten Musik von Welt. “Stayin’ Alive” stimulierte das Wurzelchakra lange bevor wir wussten, was für Geister dies zu wecken vermag. "Ra-Ra-Rasputin" war und bleibt ein Knaller. Und Abba, ach Abba!

Einmal fuhren wir an einem regennassen Abend von Zürich nach Gossau bei St. Gallen. Es war um 1978 herum, bei einer befreundeten Familie fand eine private Messe statt, um an das Martyrium eines Verwandten des Propheten Mohammad zu erinnern. Man hatte traurig zu sein. Im Auto legte meine Mutter unbeirrt eine Abba-Kassette ein, und bald erklang “Fernando”.

 

Ich musste an meinen Vater denken. Er war wenige Tage davor zu Verwandten nach Karachi geflogen. Weg von der erdrückenden Arbeit, der grauen Kälte in der Schweiz. Der Herbst in Pakistan dagegen war warm, immer noch um die dreissig Grad Celsius.

‘Garam mousm’ sagt man dort in Urdu, warmes Wetter. Abba sangen “There was something in the air that night, a star so bright”, und liessen mich trostlos auf der Autobahn in der Abenddämmerung. Ich blickte zum Himmel und dachte an die kleinen Lichter des Flugzeugs, das meinen Vater fortgetragen hatte. Ihn, Dilawar. Mutter nannte ihn Dil, Herz.

 

Vater war herzkrank. Sein Doktor hatte gesagt, er leide in Wahrheit an Heimweh. Abba, in Urdu ausgesprochen, bedeutet Papa. In Karachi sollte ihm wieder warm ums Herz werden. Garam dil, du warmes Herz. Fernando.

Dort, in der pakistanischen Hafenstadt, hatten meine Brüder und ich Kassetten mit den Hits des westlichen 70er-Jahre-Pop gekauft. Kopierte Kopien von Raubkopien, billig zu haben in Saddar, einem Markt, wo Fenster und Mauern noch heute bezeugen, dass sie mit der britische Kolonisierung hier angekommen sind.

Etwa zehn Jahre später kaufte ich bei Jecklin in Zürich eine CD von Nusrat Fateh Ali Khan, dem weltberühmten pakistanischen Qawwali-Sänger, dessen Musik unter anderem in den Soundtracks der Filme “Dead Man Walking”, “The Last Temptation of Christ”, “Natural Born Killers” und “Gangs of New York” zu hören ist.

 

Khans Album “Shaheen Shah” kam bei Peter Gabriels Real World-Label heraus und war als so genannte Weltmusik zunächst nur in Europa, den USA und in Japan erhältlich. Nach Pakistan hätte man sie importieren müssen. Bloss, wer käme schon auf die Idee, pakistanische Musik dorthin zu importieren!

Ein weiteres Jahrzehnt später feierte Pakistan seinen fünfzigsten Geburtstag. Es war der 14. August 1997, ich stieg am Morgen in Karachi in ein Flugzeug nach Lahore. Der Kapitän teilte um kurz vor acht über Lautsprecher mit, dass per Regierungsbeschluss genau um acht die Nationalhymne gesungen werden müsse, das Kabinenpersonal verteilte den Text auf Handzetteln. Als dann das Lied ertönte, erhoben sich alle Passagiere und murmelten die Melodie, die sie vom Sendeschluss auf Pakistan TV kannten.

 

Nach der letzten Strophe setzten sie sich schnell wieder und blätterten weiter in ihren Zeitungen, die vom Premierminister berichteten. Dieser hatte am Vorabend nach enormem internationalen Druck ein Gesetz zur Bekämpfung des religiös motivierten Terrorismus erlassen: Jeder Bürger, jede Bürgerin wurde fortan pauschal des Terrorismus verdächtigt.

Lahore war voller Musik. In der Gepäckhalle des Flughafens lief Qawwal (‘Kaual’), ein zum Sufismus gehörender devotionaler Gesangsstil. Draussen hupten die Autos aufgeregt, und überall spazierten Menschen mit kleinen oder grossen Radios auf ihren Schultern umher. Unweit des Pakistan Tower bliesen in schottische Kilts gekleidete Armeekadetten in Dudelsäcke, wie früher die Soldaten der englischen Königin.

 

An der Mall Road hatten sich Burschen in einem Kreis aufgestellt. In der Mitte konnte sich, wer wollte, singend und tanzend produzieren, während die anderen den Rhythmus klatschten und euphorisch pfiffen.

Am Abend spazierte ich durch die Strassen und über die Plätze dieser historischen Stadt, die als kultureller Mittelpunkt des Landes gilt. Der Freudentaumel war noch bis tief in die Nacht zu hören, schliesslich hatte der Staat einen freien Tag spendiert. Später lag ich in meinem Hotelbett und fragte mich: Was unterscheidet die widerwillig gestammelte Nationalhymne von den freudig gesungenen Liedern, die jede und jeder auswendig zu kennen schien?

 

Mir fiel eine einfache Antwort ein: Der Staat ist nicht Kultur, weder Lebens- noch Liebensraum. Wieso ihn also besingen? Aber all die anderen Lieder, ob klassisch, spirituell, kitschig, poppig oder volkstümlich, verschafft ihren Sängerinnen und Sängern das Gefühl, zusammen zu gehören. Zusammengehörigkeit spendet Wärme.

Einer urbanen Legende nach erschien dem jungen Gitarristen Salman Ahmad im Traum ein alter Mann. «Musik ist deine Berufung”, sagte dieser, “du wirst wie besessen musizieren!” Salman gründete eine Band und nannte sie: Junoon – Leidenschaft, Wahnsinn, gar Besessenheit.

 

Als ich ihn und seine Bandkollegen in ihrem Probenraum besuchte, sagte er: «Wir machen Weltmusik.» Er spielte elektrische Gitarre, Brian O’Connell, ein Amerikaner, der durch Heirat Pakistaner geworden war, Bass und Ali Azmat sang dazu in Urdu. Die Presse nannte ihre Musik «Sufi-Rock». Anlässlich Pakistans rundem Geburtstag brachten Junoon ihr fünftes Album heraus, nannten es «Azadi» – Freiheit – und widmeten es Nusrat Fateh Ali Khan.

Nachdem ich von Lahore nach Karachi zurückgekehrt war, fuhr ich eines abends mit Freunden durch Karachi. Ich fragte sie, was die Musik von Junoon ihnen bedeute. Javed, der Ehemann einer befreundeten Journalistin, antwortete: «Sie verbindet für uns uralte Traditionen mit der Moderne.»

Junoon gaben ein Konzert in Karachi. Nach einem Dutzend Rocknummern spielten sie ihre Zugaben, und mir wurde klar, was Javeds Worte bedeuteten. Das Publikum war ausser sich vor Glück, tanzte und sang und feierte.

 

Als dann mit dem sufistischen «Allah Hu» jene Zeit vor der Schöpfung in den abrahamitischen Religionen angerufen wurde, als im All alles noch eins war, schien es als wäre man zu einem Heiligenschrein gepilgert und wohnte nun einer rituellen Trance wirbelnder Derwische bei. Ich sah Männer und Frauen, Teenager und Mittzwanziger, wie sie lächelnd weinten und sich umarmten, als hätte sie jemand nach einer langen Haftstrafe aus dem Gefängnis entlassen.

Über viele Jahre habe ich meinen Vater als abwesend erlebt. Tag und Nacht arbeitend, dann in Spitälern und an Kurorten. Als etwa Zehnjähriger erlebte ich mit, wie ein Arzt meiner weinenden Mutter in einem leeren, von Neonröhren beleuchteten Spitalkorridor den klinischen Tod ihres Dil mitteilte. Mein Vater wurde dank eines geistesgegenwärtigen Arztes und dessen Defibrillator wiederbelebt.

Wenn er da war, war er wirklich da: kochend und scherzend, uns in den Schlaf singend, grosszügig mit seinen Gefühlen, mit Freunden philosophierend, mit Verwandten laute Ferngespräche führend, sufistische Lieder summend und alte Urdu-Gedichte lesend, gelegentlich melancholisch auf dem Sofa sitzend. Oft sagte er: “Wir sind alle Eins.”

 

Wenige Jahre bevor er starb, besuchte er mich oft und ohne Ankündigung in meinem Büro hinter dem Zürcher Opernhaus. Wir holten die verlorenen Jahre nach, in denen wir uns vermisst hatten.

Das warme, gütige Herz meines Abba hörte heute vor zwölf Jahren auf zu schlagen.

20. Juni 2022. In liebevoller Erinnerung an Dilawar Hussain, Sohn der Noorbano Bai Rajabali Ismail Dosani und des Noor Mohammed Ali Bhai Khemji. Ehemann der Zohra Bano Hussain-Vakil.

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